Lübeck – 09.10.17. Von der Ankunft des Südens im nordischen Kino berichten die Filme der diesjährigen Retrospektive der 59. Nordischen Filmtage Lübeck (01.-05.11.16) unter dem Titel „Mit fremden Augen“. Nach den „Nordlandreisen“ (2015) und den „Welterkundungen“ des letzten Jahres stehen nun Schicksale unterschiedlicher Einwanderergruppen im skandinavischen Raum im Zentrum der historischen Rückschau. Dabei geht es um Migration und Integration. Wobei der Blick bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, bis zu Babettes Fest (DK 1987), der die Retrospektive am 1. November 2017 eröffnen wird. Gabriel Axels Verfilmung der Erzählung von Karen Blixen steht bis heute beispielhaft für die Bereicherung Dänemarks durch einstmals „fremde“ Kulturen. In dem Oscar-gekrönten Film bringt Babette, eine französische Emigrantin, den puritanischen Insulanern das „Savoir Vivre“ bei.
Im Zentrum der Reihe allerdings stehen Einwanderergruppen des 20. Jahrhunderts: Zu ihnen zählen Kriegsflüchtlinge, die während des Ersten Weltkriegs an der finnisch-russischen Grenze strandeten, Exilierte aus Nazi-Deutschland, die in Schweden eine neue Heimat fanden, politische Flüchtlinge aus den diktatorisch regierten Staaten Südamerikas in den 1970er Jahren und die in den Zeiten des „Wohlfahrtsstaats“ herbeigerufenen „Gastarbeiter“ aus südeuropäischen Ländern.
Zu diesem Thema passende Dokumentar- und Spielfilme wurden von Jörg Schöning, Leiter und Kurator der Retrospektive, ausgewählt. Sie zeigen Neuanfänge, interkulturelle Begegnungen und verschiedene Generationen von Einwanderern. Einen besonderen Augenmerk richtet die Retrospektive auf Filmproduktionen der zweiten Einwanderergeneration, die seit dem Erfolg der „Culture Clash“-Komödie „Jalla! Jalla!“ (S 2000) ein spezifisches „Einwandererkino“ mit internationaler Ausstrahlung etablieren konnte. „Früher hießen Regisseure aus Skandinavien Bergman oder Christensen“, sagt dazu Jörg Schöning, „heute können sie auch Iram Haq oder Kadri Kousaar heißen. Aber das ist kein ganz neues Phänomen, sondern eine Bereicherung, die vor Jahrzehnten schon begonnen hat. Dies bewusst zu machen, ist Zweck der Retrospektive.”
In Lauri Törhönens Die Grenze (FL, RUS 2007) gerät ein Offizier am Ende des Ersten Weltkriegs zwischen die Fronten russischer Emigranten, sowjetischer Funktionäre und finnischer Nationalisten. Hier prallen Flüchtlingsschicksale und nationale, wie persönliche Eigeninteressen aufeinander – Parallelen zur Gegenwart sind dabei unübersehbar. Alexander Røslers im Norwegen der 50er Jahre spielender Film Mendel (NOR, D 1997) erzählt die Geschichte eines jüdischen Jungen aus Deutschland, der das Geheimnis der traumatischen Vergangenheit seiner Eltern lüften will und die eigene Identität zu finden versucht. Enttäuschte Erwartungen inszeniert Carlo Barsotti in Ein Paradies ohne Billard, dem Publikumsliebling der Nordischen Filmtage Lübeck 1991. Der Film skizziert zwei unterschiedliche Lebenswege von italienischen Gastarbeitern, die in den 50er Jahren nach Schweden kamen. In dem Schweden-Thriller Sturm der Vergeltung (S / IS / FL 2000) von Reza Parsa vereinen sich die Schicksale des Immigranten Ali und von Leo, dem Sohn einer Polizistin.
Das Kurzfilmprogramm Immigrantfilmarna / Immigrantenfilme wird vonJohn Sundholm, Lars Gustaf Andersson und Kay Hoffmann präsentiert: Drei ausgewählte schwedische Werke, die Ende der 1970er und Anfang der Achtziger Jahre die Perspektive der Neuankömmlinge dokumentierten. Mit Fata Morgana (S 1981) zeichnet Guillermo Alvarez das aufrichtige und ungeschönte Porträt eines lateinamerikanischen Immigranten in Schweden, dessen zunehmende Frustration wächst, weil sein Leben hier keinen rechten Zusammenhang findet. Erdmensch (S 1980) von Muammer Özer porträtiert in einer Collage aus verschiedenen Genres, die die Spannung zwischen Aufbruch und Stillstand, der sich ein Neuankömmling ausgesetzt sieht, verdeutlicht, einen türkischen Immigranten in Schweden. Peter Nestlers Dokumentarfilm Ausländer. Teil 2. Zigeuner (S 1978) kritisiertdie Diskriminierung der Roma in Schweden.
Seppan (S 1986) lässt sein Publikum in einen multikulturellen Mikrokosmos der frühen 1960er Jahre eintauchen. Die Regisseurin Agneta Fagerström-Olsson zeigt, wie Finnen, Österreicher, Russen, Polen in einer schwedischen Immigrantensiedlung Adoleszenzdramen erleben. Montenegro oder Perlen vor die Säue (S / GB 1981) ist eine frivole Filmsatire von Dušan Makavejev, der zeigt, wie eine frustrierte amerikanische Hausfrau in Schweden Momente sinnlicher Befreiung im Kneipenmilieu jugoslawischer Gastarbeiter erlebt. Norwegens Antwort auf Martin Sorseses „Goodfellas“ heißt Izzat – A Killer Thriller (NOR 2003). In Ulrik Imtiaz Rolfsens Film fassen drei junge Pakistani, die im Oslo der 80er Jahre aufwachsen, Fuß im kriminellen Milieu.
Kersti Grunditz Brennan und Jannike Åhlund werden als Gäste mit dabei sein, wenn ihr Dokumentarfilm, bei dem sie zusammen mit Maud Nycander Regie führten, in Lübeck gezeigt wird. Citizen Schein (S 2017) ist das Porträt des „Erfinders“ der schwedischen Filmförderung, Harry Schein, der 1939 als rassistisch verfolgter Emigrant aus Österreich nach Schweden gelangte. Der Film wird bei der diesjährigen Masterclass Dokumentarfilm „Lebendige Geschichte“ den Umgang mit historischem Filmmaterial verdeutlichen und aufzeigen, wie man vergangenen Zeitgeist wieder filmisch zum Leben erweckt.
In Landschaft in Weiß (NOR 1985) von Gianni Lepre legt sich ein pakistanischer Gastarbeiter mit seinem kriminellen Chef an. Eine Liebes- und Kriminalgeschichte mit realitätsnahem Bezug zum norwegischen Alltag. Natürlich darf auch die schwedische „Culture Clash“-Komödie „Jalla! Jalla!“ nicht fehlen, sie hat ein spezifisches „Einwandererkino“ mit internationaler Ausstrahlung etabliert. Josef Fares’ witziger Debütfilm war 2000 der erste internationale Publikumserfolg des nordischen „Einwandererkinos“. Im Großstadtthriller Mirush und sein Vater (NOR 2007)von Marius Holst macht sich ein verstoßener Sohn auf die Suche nach seinem Vater, der die Familie verließ, um im Norden Geld zu verdienen.
Das diesjährige Special SUOMI 100 - welches 100 Jahre Finnland feiert - legt sein Augenmerk auf das Werk von Aki Kaurismäki und die jüngste Wendung im Werk des finnischen Altmeisters. Dieser ist 1957 in Orimattila geboren und gilt als „Chef-Melancholiker des europäischen Autorenkinos“. SeineHelden waren schon immer die „kleinen Leute“: Außenseiter, Arbeiter und Arbeitslose – Verlierer der Gesellschaft.
Nostalgische Bilder von Schwachen, die die Solidarität untereinander finden, zeichnete Karusmäki 2011 beeindruckend inLe Havre (FL, F, D 2011). Das französische Flüchtlingsdrama um Lebenskünstler und Literat Marcel Marx, der mit Ehefrau Arletty und Hündin Laïka still und bescheiden in Le Havre lebt, erhielt 2011 unter anderem den FIPRESCI-Preis in Cannes. Auch Die andere Seite der Hoffnung (FL, D 2017) erhielt bei der Berlinale den Silbernen Bären für die beste Regie. In dem Werk vereinen sich soziale Realität und die ganze Märchenhaftigkeit des „Kaurismäki-Kosmos“ auf perfekte Weise.
Erinnerung, Restaurierung und Archivierung von Filmen und Kinokultur, daruner auch solche von oder über Immigranten, rücken am 3. und 4. November 2017 in den Mittelpunkt. Unter der Leitung von Dr. Anders Marklund, Hochschuldozent an der Universität Lund und Chefredakteur des „Journal of Scandinavian Cinema“, diskutieren Wissenschaftler, Studenten und Filminteressierte an zwei Tagen beim vierten „Lübeck Film Studies Colloquium“ in der Hansestadt Lübeck. Wissenschaftliche Vorträge in englischer Sprache widmen sich dieses Jahr drei Themenschwerpunkten rund um den nordischen Film: Migrant Cinema, Archival Practices und Television Drama. Neben vielen anderen Wissenschaftlern und Filmschaffenden aus den nordischen Ländern werden John Sundholm (Stockholm) und Lars Gustaf Andersson (Lund) über Archiving immigrant filmmaking sprechen. Mit der Veröffentlichung des filmwissenschaftlichen Werkes „Beyond the Bridge“ (Tobias Hochscherf, Heidi Philipsen) wird darüber hinaus von den beiden Autoren ein Fokus auf aktuelle skandinavische TV-Serien und ihren internationalen Erfolg geworfen.
Die 59. Nordischen Filmtage Lübeck finden vom 1. bis 5. November 2017 statt. Auf der Programm-Pressekonferenz am 11.10.17 werden die fürs Festival ausgewählten Filme und Reihen, Special Events sowie zu erwartende Gäste vorgestellt.
Alle Informationen zu den Filmtagen und zum Programm sowie die Möglichkeit, sich zu akkreditieren, online unter www.filmtage.luebeck.de oder aktuelle News auch auf den Social Media Kanälen Facebook, Twitter, Instagram/nordicfilmdays.
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